HipHop als Immaterielles Kulturerbe – „ostdeutsche“ Perspektive(n) und Initiative(n)
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„HipHop-Kultur straft den Stereotypen Kurzweil […]“1 prognostizieren und bilanzieren die Herausgeber:innen des vielfältigen Sammelbands HipHop meets Academia. Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens gleich auf der ersten Seite. Vielfältig ist auch der HipHop selbst; er vereint verschiedene Elemente wie Rap, Breakdance, Deejaying, Beatboxing und Graffiti zu einer facettenreichen Kulturform mit individuellen Anschlussmöglichkeiten.
So wundert es nicht, dass Akteur:innen der Heidelberger HipHop-Szene 2021 die Initiative ergriffen, die HipHop-Kultur als Immaterielles Kulturerbe im Sinne der UNESCO anerkennen zu lassen. Und dies mit Erfolg: Die HipHop-Kultur in Heidelberg und ihre Vernetzung in Deutschland ist seit 2023 im Bundesweiten Verzeichnis gelistet. Trotz des partizipativen und vereinenden Charakters können die jeweiligen Erscheinungsformen und Identitätsentwürfe recht unterschiedlich sein und in spezifische Bedeutungsgehalte erfahren.
So beschäftigt sich in Dessau-Roßlau eine Gruppe von HipHop-Begeisterten mit ihren historischen Wurzeln in der damaligen DDR und damit, welches Selbstverständnis daraus resultiert, inwieweit dieses heute noch anschlussfähig ist und möglicherweise gegenüber anderen Ausprägungen abgegrenzt und kommuniziert werden kann.
Um die eigene Perspektive aufzuzeigen und gleichsam zur Diskussion zu stellen, sich weiter zu vernetzen und Fragen um eine mögliche Verzeichnung als eigenständige Immaterielle Kulturform zu diskutieren, wurde am 27. und 28. September 2024 zu einem Workshop nach Dessau-Roßlau geladen.

OSTBRONX: Auf dem Weg zum Immateriellen Kulturerbe. 40 Jahre HipHop im Osten Deutschlands
Im Gemeinderaum der katholischen Pfarrei St. Peter und Paul Dessau trafen am 27. und 28. September 2024 Welten aufeinander: Unter einer mildlächelnden Marienfigur stehen Menschen in weiten Hosen, Bucket Hat und Cap. Auf Tischen zeigen Schautafeln Schwarz-Weiß-Fotografien von Jugendlichen beim Breakdance, posierend mit Ghettoblaster, aber auch Auszüge einer Stasi-Akte. Es geht um die Begeisterung von Jugendlichen für HipHop in der ehemaligen DDR und was über 40 Jahre später daraus geworden ist. Denn: „HipHop in Ostdeutschland hat eine eigene Geschichte, die Anerkennung verdient und immer noch lebendig ist.“, so der Initiator Jörg Schnurre (NEWKID e.V.). Mit anderen strebt er eine Bewerbung für das Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes an und organisierte in Kooperation mit der Beratungsstelle Alltagskulturen vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V. die Veranstaltung. Im Rahmen des Workshops schauten Interessierte und Unterstützer:innen zurück auf die HipHop-Szene der DDR, diskutierten gegenwärtige Entwicklungen und erörterten Chancen und Herausforderungen für einen Kulturerbe-Antrag.
Historische Expertise – „Am Anfang war die Welle“
HipHop sei, erklärt der zum Workshop geladene Historiker Leonard Schmieding, in den 1980ern schon als immaterielles Kulturphänomen in die DDR gekommen, zunächst als Fernseh- und Radiowellen – oft in den verbotenen westdeutschen Medien –, und dann in wellenförmigen Tanzbewegungen, die sich Jugendliche in stundenlanger Übung selbst aneigneten. Schmieding weiß, wovon er spricht; für seine Promotion zum HipHop in der DDR hat er in Archiven recherchiert und Protagonisten von damals interviewt. Medialer Zündstoff für die HipHop-Bewegung in der DDR, so erklärt er, war schließlich der US-amerikanische Spielfilm „Beat Street“ von 1985. Genau wie Kenny und seine Freunde aus der New Yorker South Bronx wollten auch junge Menschen aus Dessau, Leipzig oder Rostock rappen, breaken und sprayen. Die Ambitionen der DDR-Kulturpolitik und die Interessen der Breakdance-begeisterten Jugendlichen trafen hier in kurioser Weise zusammen. Sollte der Film eigentlich, so Schmieding, durch das Aufzeigen der Armut amerikanischer Minderheiten eine kritische Haltung zum „Klassenfeind“ bewirken, so stieß die Produktion bei Jugendlichen eher auf eine Amerika-Faszination. Zustimmendes Nicken im Publikum: 15, 20-mal seien sie im Kino gewesen, nur um diese eine Tanzszene zu sehen und dann schnell danach heim zum Üben. Die günstigen Eintrittspreise im Kino hätten ihr Übriges getan.
Zäsur nach dem Mauerfall
Mit dem Ende der DDR fielen nicht nur Grenzen, sondern auch staatlich getragene Räume zum Üben und Auftreten. Die Akteur:innen der Szene gingen unterschiedliche Wege: nach Westdeutschland oder New York, zum Studium oder in die Bundeswehr. Die Szene veränderte sich. Orientierte man sich zunächst nach Westen – die USA, Großbritannien und die alten Bundesländer –, bildeten sich in den 1990ern auch bleibende Strukturen in Ostdeutschland. Beispielsweise das Splash!-Festival in Chemnitz, seit 2009 in Ferropolis in Gräfenhainichen, das Label Dominance Records aus Dessau oder Breakdance-Wettbewerbe wie die Battle of the East seit 1997.
Reflexive Nostalgie
Unter den Protagonisten der ersten Generation sei seit den 2000ern eine verstärkte Vernetzung, v. a. über das Internet zu bemerken. Auch das bereits erwähnte Dokumentarfilmprojekt von dem Dessauer Regisseur Nico Raschick von 2006 war Impuls Kontakte wiederzubeleben. Seit einigen Jahren organisieren HipHopper:innen Traditionstreffen. Diese Old School Jams beschreibt der Historiker Schmieding als eine Form reflexiver Nostalgie: Nicht Altes wird kopiert, sondern Erinnerungen, Fotos, alte Boomboxen und Accessoires werden ausgetauscht. Genauso aber wird gemeinsam gesprayt, mit DJs verschiedener Generationen aufgelegt und Kindern erste Breaking-Bewegungen beigebracht.
HipHop in Ostdeutschland heute
Den Workshop in Dessau beschließt ein Podiumsgespräch mit Thomas Meumerzheim und Veit Braml, beide seit den 1980ern als Breakdancer bzw. Rapper aktiv, und Thomas Hilger, Sozialarbeiter beim Spike e.V. Dresden. Meumerzheim und Braml reflektieren noch einmal den Vorbildcharakter des Films „Beat Street“. Trotzdem ginge es ihnen damals nicht ums Kopieren, sondern um das Übertragen eines Lebensgefühls, betonen sie. Sie erinnern sich an ein starkes Gemeinschaftsgefühl durch den HipHop und an die Faszination am Unbekannten. Konflikte zwischen Crews und verschiedenen Gruppierungen wie in späteren Jahrzehnten kannten sie nicht.
Neben den langanhaltenden und engen Kontakten, die aus dieser Anfangszeit entstanden sind, nehmen beide heute eher eine Kluft zu jüngeren Generationen wahr. Die Rahmenbedingungen für HipHop haben sich seit den 1980ern rasant verändert. „Mit uns stirbt der DDR-Breakdance aus“, so die nüchterne Bilanz von Meumerzheim. Gleichzeitig finde jede Generation ihre eigenen, heute viel internationaler orientierten Bezugspunkte, grenze sich ab und mache ihre eigenen Erfahrungen, wirft Thomas Hilger ein. Er beschreibt, wie er in seiner Arbeit als Sozialarbeiter erlebt, wie Jugendliche durch Graffiti, Rappen und Breaken, sich immer wieder auf Identitätssuche begeben, Traumatisierungen bewältigen und in der Gemeinschaft erleben, dass jeder etwas könne. Vielleicht auch ein Input für das Brückenbauen zwischen den Generationen. Abschließend fragt der Moderator Dirk Wald, was man weitergeben, was man vererben wolle. Es seien Werte wie Respekt, der Do-it-Yourself-Gedanke, der gerade in der DDR als Form des Empowerments verstanden wurde und die Leidenschaft für HipHop, kommt es aus der Runde. Die Zuhörenden klatschen spontan.

Auf dem Weg zum Immateriellen Kulturerbe?
Im Gemeinderaum von Peter und Paul bleibt es an diesem Samstag auf der reflexiv-diskursiven Ebene. Joerg Schnurre berichtet, wie er in seiner Jugend in Köthen selbst zum Graffiti und jetzt zum Engagement für die lokale HipHop-Kultur gekommen ist. Gemeinsam mit Laura Ettlich tourte er im Sommer 2024 zu verschiedenen HipHop-Veranstaltungen in Ostdeutschland, um die Initiative für eine Kulturerbe-Bewerbung vorzustellen.
Die Idee für das Immaterielle Kulturerbe kam ihm beim Einsatz um den Erhalt der Alten Brauerei in Dessau-Roßlau als Kulturort. Der Verein NEWKID e.V. möchte dort mehr als einen klassischen Klub einrichten, vielmehr eine Art Museum mit Aktionsfläche. Gerade in Dessau sieht Schnurre oft die Hochkultur wie Theater und Bauhaus im Vorteil gegenüber Subkulturen, die reduzierend als bloße Unterhaltung abgestempelt würden. „Andererseits kommt kein Workshop ohne HipHop-Elemente aus.
Wenn wir die Coolen sind, sollte das auch anerkannt werden“, so Schnurre. Im Bewerbungsprozess unterstützt ihn die Dessauerin Laura Ettlich, die sich in Demokratie- und Kulturprojekten in der Stadt engagiert. „Mit HipHop explizit hatte ich zwar davor wenig zu tun, aber ich glaube, dass Musik schon immer ein sehr wichtiges Medium in Bezug auf die Prägung von Jugendkulturen war. Die HipHop-Szene in Ostdeutschland steht bis heute für eine solidarische Gemeinschaft, die sich immer wieder für Demokratie stark macht.“ begründet Ettlich ihr Engagement für den Antrag.
Die Beweggründe und Argumente, die ostdeutsche HipHop-Szene als eigenständige immaterielle Kulturform im Bundesweiten Verzeichnis listen zu lassen, gilt es nun in einem eigenständigen Antrag in der 7. Bewerbungsrunde darzulegen. Möglich wäre nun auch mit der Bewerbung, ein Interesse an einer Erweiterung des bereits bestehenden Eintrages der der HipHop-Kultur auszudrücken. Unabhängig davon, wie sich die Beteiligten und die in das Bewerbungsverfahren eingebundenen Gremien entscheiden werden – bereits jetzt verbindet die Reflexion über die eigene Kulturform, ihre Wurzeln, historische Prägung und daraus resultierende, spezifische Identitätsentwürfe diverse Akteur:innen. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt, den auch die Deutsche UNESCO-Kommission mit dem recht umfangreichen und mehrstufigen Bewerbungsverfahren anregen möchte. Vor allem ist es aber das jeweilige Engagement – sei es im Rahmen der erweiterten Öffentlichkeit durch das Bewerbungsverfahren, dem Vernetzungsbestreben, der lokalen Kulturförderung oder in der sozialpädagogischen Arbeit, das Anerkennung verdient und Unterstützung bekommen sollte.
Die Initiator:innen freuen sich über weitere Kontakte, Ideen und Anregungen, gern auch konkrete Unterstützungsangebote. Zudem stehen Ortrun Vödisch (Beratungsstelle Alltagskulturen in Sachsen-Anhalt, LHBSA) und Antje Reppe (Beratungs- und Forschungsstelle für Immaterielles Kulturerbe in Sachsen) als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung.
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1 Karin Bock, Stefan Meier, Gunter Süß (Hg.): HipHop meets Academia. Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens. Bielefeld 2007, S. 11.